Carolin Emcke im Gespräch mit Andreas Heinz (Direktor Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité), Tobias Kurth (Leiter des Instituts für Public Health, Charité) und Marion Lieser (Geschäftsführerin Oxfam)
Wer von sozialer Ungleichheit spricht, muss auch über Armut und Krankheit sprechen. Ungleichheit zeigt sich nicht allein im Einkommen oder in der Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe, sondern Ungleichheit zeigt sich auch in der Anfälligkeit für Krankheiten. Aktuelle Studien verweisen auf zwei Faktoren als entscheidend für gesundheitliche Ungleichheit: Sozialstatus und Bildungsniveau. Hochschulabsolventen leben im Durchschnitt zwei bis zwölf Jahre länger als Menschen mit Grundschul- oder ohne Schulabschluss. Einkommensarme, Langzeitarbeitslose, alleinerziehende Mütter und Migrant*innen leiden unter besonderen Belastungen durch soziale Exklusion. Wird ein gesundes und langes Leben zunehmend zu einem Ausweis von Privilegiertheit? Wie wirkt sich die Chancenungleichheit auf Kinder von benachteiligten Gruppen aus? Was lässt sich gegen die gesundheitliche Chancenungleichheit unternehmen? Welche politischen, sozial-medizinischen Strategien könnten greifen?
Andreas Heinz (*1960, Stuttgart) ist seit 2002 Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte in Berlin. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind, neben der Lehre und Versorgung, die Migrationsforschung mit Fokus auf Armut und Gesundheit sowie die Forschung zu Lernmechanismen bei psychischen Erkrankungen. Er ist zudem Leiter des Bereichs Migration, psychische und körperliche Gesundheit und Gesundheitsförderung am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung.
Tobias Kurth (*1968, Sindelfingen) ist Professor für Public Health und Epidemiologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Leiter des Instituts für Public Health. Darüber hinaus ist er als Adjunct Professor für Epidemiologie an der Harvard T. H. Chan School of Public Health tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der neuro-kardiovaskulären Erkrankungen sowie der Pharmakoepidemiologie und der Anwendung von kausalen Methoden in der Bevölkerungsgesundheitsforschung. Er hat nationale und internationale Lehrtätigkeiten inne und ist Consulting Editor des British Medical Journal (BMJ).
Marion Lieser (*1962, Berlin) ist seit Januar 2012 Geschäftsführerin des Oxfam Deutschland e.V. Sie studierte Sozialpädagogik und soziale Arbeit, Soziologie und Umweltwissenschaften und ist seither im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig, so u. a. für den Deutschen Entwicklungsdienst (DED) im Sudan und Kenia, sowie für die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW). Zuletzt war sie für die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Tansania als integrierte Fachkraft für die Beratung der Leitung des größten zivilgesellschaftlichen Dachverbandes des Landes eingesetzt, in dem kirchliche Initiativen zu Gesundheitsfürsorge, Bildung und Armutsbekämpfung organisiert sind.
Streitraum 2017/18: »Wissen und Macht«
Lange galt der Mythos, wer über Wissen und Bildung verfüge, verfüge auch über Macht und Status. Umgekehrt galt der Zugang zu Wissen und Bildung auch als eine Form der Umverteilung und als Weg aus der Ohnmacht. Der »Streitraum« 2017/18 will fragen, was von dieser Vorstellung noch übrig geblieben ist. Denn offensichtlich gelten auch ganz andere Konfigurationen: Beim Brexit wie auch bei der Wahl Donald Trumps schien Unwissen (oder sogar Lügen) erstaunlich machtvoll zu sein. Der explizite Anti-Intellektualismus verschiedener populistischer Bewegungen probt den systematischen Angriff auf Institutionen der Wissensvermittlung wie Universitäten, Kultureinrichtungen und Theater. In einer Zeit, in der durch digitale Medien der Zugang zu Wissen schneller und breiter als je zuvor ermöglicht wird, sind sie nur eines der Konfliktfelder, in denen Wissen und Unwissen sowie Macht und Ohnmacht verhandelt werden. Wie ungleich oder ungerecht wird Wissen verteilt? Was sind die Ursachen für die fehlende soziale Mobilität in einer Gesellschaft? Wie gelingt es radikalen, politischen Bewegungen und Netzwerken, aber auch autoritären, chauvinistischen Regimen, ihre Ideologien und ihre Verbrechen machtvoll zu propagieren und zu inszenieren? Welche technischen, welche ästhetischen Gegenstrategien kann es gegen die Verbreitung von Lügen, Diffamierungen und Hass geben? Verschieben sich die gewalttätigen Konflikte zunehmend in die Sphäre von Cyber-Wars? Und was bedeutet das für die Kritik daran? Der »Streitraum« will in der Spielzeit 2017/18 diese ganz unterschiedlichen Phänomene in den Blick rücken: die sozialen Fragen der Ungleichheit ebenso wie die Fragen nach autoritären Regimen und den »Unsichtbaren« in der Gesellschaft – und welche Dispositive der Macht sie generieren.