Carolin Emcke im Gespräch mit Didier Fassin (Ethnologe und Soziologe)
In den letzten Jahrzehnten lässt sich ein beispielloses Moment des Strafens beobachten: Obwohl die Gefangenenzahlen dramatisch angestiegen sind, spiegelt sich dieser Anstieg nicht in der Anzahl der begangenen Straftaten. Basierend auf zehn Jahren ethnografischer Forschung über Polizei, Gerichte und das Gefängnissystem kritisiert Didier Fassin die öffentliche Repräsentation von Strafe und deren Wahrnehmung – beide stimmen häufig nicht mit der Realität überein. Soziale und ethnische Herkunft der Kriminellen scheinen ausschlaggebender als das Verbrechen und seine Folgen. Wie lautet die rechtliche Definition von Strafe – und wie ihre philosophische Begründung? Weshalb wird über die ungleiche Anwendung von Strafe geschwiegen? Und wie kann das Nachdenken über Verbrechen und Strafe unsere Identität in ihren politischen und moralischen Prinzipien infrage stellen?
Didier Fassin (*1955) ist Professor für Sozialwissenschaft am Institute for Advanced Study in Princeton und Studiendirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Als Ethnologe, Soziologe und Arzt war Didier Fassin Gründungsdirektor des Interdisziplinären Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften (IRIS) am französischen Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Sein Hauptforschungsgebiet ist die politische und moralische Anthropologie, mit besonderem Fokus auf Formen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit in Frankreich, im subsaharischen Afrika und in Lateinamerika. Über einen Zeitraum von sechs Jahren führte er ethnografische Studien durch, in denen er die urbane Polizeiarbeit in Paris sowie das Gefängnissystem untersuchte und die auf Englisch unter dem Titel »Enforcing Order – An Ethnography of Urban Policing« (Polity Press, 2013) und »Prison Worlds – An Ethnography of the Carceral Condition« (Polity Press, 2017) erschienen sind. In seinen aktuellen Arbeiten befasst er sich mit der Theorie der Strafe, der »Politik des Lebens« und der öffentlichen Präsenz der Sozialwissenschaft; er schreibt regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften. Zuletzt erschienen von ihm »Das Leben – Eine kritische Gebrauchsanweisung « (Suhrkamp Verlag, 2017) und »Der Wille zum Strafen« (Suhrkamp Verlag, 2018). Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. 2016 mit der Goldmedaille der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geografie sowie 2018 als erster Sozialwissenschaftler mit dem NOMIS Distinguished Scientist Award.
Simultanübersetzung: Sungur Bentürk, Lilian-Astrid Geese
Streitraum 2018/19: »Identität und Repräsentation«
Wenn heute von Identitäten die Rede ist, ist nicht immer sicher, worauf man sich bezieht: auf kulturelle, religiöse, soziale Gemeinschaften? Auf Geschlecht, Herkunft, Nationalität? In welchen ambivalenten Identitäten lassen sich heute gesellschaftliche Formationen begreifen? Welche Zuschreibungen und Projektionen belasten, welche erleichtern die Zugehörigkeit zu einer sozialen oder religiösen Gruppe oder Lebensform? Welche Bilder, welche Begriffe dienen als Instrumente der Stigmatisierung? Warum bleibt die Kategorie der Klasse so tabuisiert als ob es das nicht gäbe: soziale Ausgrenzung oder soziale Distinktion, die sich vererbt von Generation zu Generation? Was braucht es, damit demokratische Gesellschaften wieder durchlässiger, hybrider, pluraler werden? Wie verhalten sich Identität und Repräsentation zueinander? Nicht nur parlamentarische und politische Repräsentationen sehen sich zunehmender Kritik ausgesetzt, auch die Formen medialer, künstlerischer Repräsentationen gehören hinterfragt. Welche Bilder, welche Erzählungen werden zitiert und wiederholt, welche werden verdrängt und vergessen, wie werden Stereotype erzeugt, in denen Vorstellungen von »echt« oder »unecht«, »wir« und dem »Anderen« sich verhärten? Wie frei, wie streitbar, wie bösartig dürfen Menschen oder Gruppen dargestellt und karikiert werden – und welche Kriterien gelten in der Kunst, in der Musik, im Film oder im Theater?