Carolin Emcke im Gespräch mit Lutz Raphael (Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier)
In seinem Buch »Jenseits von Kohle und Stahl« beschreibt Lutz Raphael den Strukturwandel in der westeuropäischen Industrie zwischen 1970 und 2000 als Vorgeschichte heutiger Konflikte. Er zeigt, wie Deindustrialisierung die Gesellschaft verändert hat: Milieu und Selbstverständnis des Malochers in Kohle- und Stahlindustrie wurden durch einen Transformationsprozess zerrieben, der völlig andere soziale Bindungsprozesse und Ungleichheiten bedeutete. Wer die heutige Debatte um die (Un-)Sichtbarkeit bestimmter Gruppen verstehen will, sollte sich mit dieser historischen Phase und ihrer medialen Deutung beschäftigen. Zum Auftakt der Streitraumreihe »Brave New Bodies, Brave New Humanity?« wird ein Blick auf die alten Körper der alten Bundesrepublik geworfen.
Lutz Raphael (*1955, Essen) ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Gastprofessuren führten ihn u. a. nach Oxford, London und Paris. Er ist Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaft und Literatur sowie der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 2013 erhielt er den Gottfried Wilhelm Leibniz- Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er ist u. a. Mitherausgeber der Reihen »Moderne Zeit«, »The Politics of Historical Thinking« und »Ordnungssysteme«. Zuletzt erschien sein Buch »Jenseits von Kohle und Stahl – Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom« (2019) im Suhrkamp Verlag, weitere Buchpublikationen sind u. a. »Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945« (C. H. Beck Verlag, 2011) und »Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts« (Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, 2018).
Streitraum 2019/20: »Brave New Bodies, Brave New Humanity?«
Wie verändern sich das Denken und auch das Erleben des Körpers und verschiedener Körperlichkeiten im 21. Jahrhundert – und welche Folgen hat das für unsere Vorstellung des Selbst? Wie wir unsere Körper wahrnehmen, wie der Umgang mit dem eigenen Körper erlernt und weitervererbt wird, ist immer schon ein Konfliktfeld kultureller, religiöser, sozialer Praktiken und Überzeugungen gewesen. Wie Körper verhüllt, entblößt, ausgestellt, gepflegt, behandelt werden, mit welchen Bildern Körper in Kategorien von männlich oder weiblich, schön oder hässlich, gesund oder krank, sichtbar oder unsichtbar gemacht werden, ist immer schon normativ und kommerziell ausgeprägt.
Der Streitraum 2019/20 will sich die Frage stellen, wie die medizinisch-technischen Entwicklungen der Prothetik, wie Künstliche Intelligenz und Robotik, aber auch die grundsätzliche Durchdringung und Nutzung digitaler Technologien in allen unseren Lebensbereichen unsere Körper(-Bilder) und unser Selbstverständnis verändern. Was bedeutet Humanismus, was bedeutet ein soziales Wir unter diesen Bedingungen? Welche ökonomischen, kommerziellen Interessen steuern und programmieren die Algorithmen, die über unsere Fitness, unsere Ernährung, unsere Gesundheit mehr und mehr entscheiden? Wie verändert sich unser Selbstbild, aber auch unser Begriff von Begehren, von Sexualität und vom Sterben durch neue Technologien?